Die Musik, die mir besonders am Herzen liegt …
Der Free Jazz wurde Anfang der 1970er Jahre mit dem Aufkommen der Fusion-Musik, des Rockjazz und Jazzrock aus dem Rampenlicht der Jazzentwicklung verdrängt. Seine Musiker blieben trotz der relativen kommerziellen Erfolglosigkeit der Musik innovativ aktiv. Aus ihren Kreisen rekrutieren sich viele derjenigen Musiker, die den Jazz der 1980er Jahre mitbestimmten.
Fusion
In den 1960er Jahren war die Entwicklung des Jazz zu einem Höhepunkt, ja scheinbar zu einem Endpunkt gelangt. Der Jazz hatte sich konsequent von einer im Volkstum verwurzelten Musik hin zu einer Kunstmusik entwickelt. Dabei nahm vom New Orleans Jazz zum Swing, vom Swing zum Bebop, vom Bebop zum Free Jazz die Komplexität der melodischen, rhythmischen und harmonischen Ebenen zu, wobei schließlich sogar einige der Grundfesten solcher Parameter aufgelöst wurden. Darüber hinaus experimentierten Musiker immer mehr mit dem formalen Moment, versuchten, neue Formen zu schaffen oder aber sich von formalen Konventionen zu lösen, die den Jazz zuvor bestimmt hatten – vom Blues beispielsweise oder von den üblichen Songformen.
Eine Gegenbewegung musikalischer wie ökonomischer Art ist die Fusion der 1970er Jahre, in der Musiker einerseits versuchten, der scheinbaren Komplexität des Free Jazz simple Formen entgegenzustellen, andererseits statt des elitären Publikums der 1960er Jahre wieder ein Massenpublikum für den Jazz zu interessieren.
Den beginnenden Erfolg der Fusion markiert Miles Davis’ LP “Bitches Brew” von 1969. Neben Davis strebten damals auch Musiker von anderen Seiten einer solchen Fusion zwischen Jazz und Popularmusik zu. Frank Zappa (1940-1993) beispielsweise ließ in seinen Personalstil Elemente aus dem aktuellen Jazz wie aus der zeitgenössischen komponierten Musik einfließen. Der Gitarrist Jimi Hendrix (1942-1970) war nicht nur ein Popidol, sondern auch bei vielen Jazzmusikern wegen seiner Improvisationsgabe hoch angesehen.
Die Aufnahmen Miles Davis’ aus den späten 1960er Jahren aber waren am einflußreichsten auf die ein immer größeres Publikum findende Fusion-Musik. Dieser Einfluß begann bei Davis’ Entscheidung für eine bis dahin unübliche Besetzung. Zuvor war der Jazz – abgesehen von der elektrisch verstärkten Gitarre und einigen Ausflügen in die Rock- und Popinstrumentalistik – eine akustische Musik gewesen. Das änderte sich bereits 1968, als in der Miles Davis Band außer dem Trompeter, einem Saxophonisten und einem Schlagzeuger nur elektrische Instrumente spielten: drei Keyboards, E-Baß und E-Gitarre.
Die Fusion-Szene der 1970er Jahre wurde von Musikern angeführt, die in Davis’ Band von 1968 mitgewirkt hatten: Herbie Hancock (geb. 1940), der bis in die 1990er Jahre hinein neben akustischen Konzerten immer auch auf den populären Markt gerichtete Fusion-Musik machte; Chick Corea (geb. 1941), dessen Band Return to Forever zu einem der wichtigsten Ensembles der 1970er Jahre wurde; John McLaughlin (geb. 1942) mit seinem Mahavishnu-Orchestra; Joe Zawinul (geb. 1932), der zusammen mit Davis’ Saxophonisten Wayne Shorter (geb. 1933) die erfolgreiche Gruppe Weather Report gründete.
Der Einfluß des Jazzrock in den 1970er Jahren war enorm – und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganzen Welt. Jazzmusiker sahen eine Möglichkeit, in dieser Musik den Kontakt mit dem Publikum wiederzufinden, Rockmusiker waren von der erweiterten Hörbereitschaft vieler Jazzfans angetan, und so näherte man sich einander von beiden Seiten. Die Musik von Miles Davis in jener Zeit unterscheidet sich erheblich von dem, was er zuvor gespielt hatte. Seine Soli und die seiner Mitmusiker sind meist modal angelegt. Wo der Mangel harmonischen Wandels in der modalen Musik Davis’ und Coltranes in den 1950er Jahren allerdings durch die Komplexität in der melodischen Erfindungsgabe ein Gegengewicht fand, wird er nun zum Selbstzweck. Legt man die Ästhetik der 1950er und 1960er Jahre an die Musik an, die Miles Davis in der Fusion der 1970er machte, muß man zwangsläufig zum Schluß gelangen, diese sei vergleichsweise “schlechter” – wenn überhaupt noch – Jazz. Das Experiment der Fusion aber führte durchaus für beide Bereiche – Rock wie Jazz – zu einer Fortentwicklung.
Durch die technische Perfektion vieler der aus dem Jazzbereich stammenden Musiker hielt eine neue Professionalität Einzug in die Pop- und Rockmusik. In ihr wurden immer mehr Musiker aktiv, die eine grundlegende Ausbildung im Jazz hinter sich hatten und in der Lage waren, beispielsweise als Schlagzeuger sowohl swingende Jazz- als auch treibende Rockrhythmen zu spielen, als Saxophonisten virtuos-freie Soli und soulhaltige Passagen zu blasen, oder als Gitarristen lärmende Klangfetzen und harmonische Jazzakkorde zu setzen.
Die Fusion aus Jazz und Rock ist in der Retrospektive eine historische Stilrichtung, die nicht ohne Einfluß auf die weitere Entwicklung des Jazz blieb. Sie fand in den 1970er Jahren ein großes Publikum für diese Musik, öffnete außerdem vielen Jazzmusikern neue Aufführungsorte. Schließlich formte die Fusion den Stil einer ganzen Generaton auch von Musikern, die sich später nicht mehr in ihr bewegten. Wenn man in den 1990er Jahren von einem Generationskonflikt in der Jazzmusik sprechen könnte, dann wäre dies einer zwischen älteren Musikern, die die Erfahrung des Jazzrock in ihre Musik einfließen lassen – beispielsweise Pat Metheny (geb. 1954), Dave Sanborn (geb. 1945) oder die Gruppe Steps Ahead –, und jüngeren Musikern, die sich traditionelleren Stilrichtungen zuwenden, welche weit vor dem Jazzrock der 1970er, nämlich im Hardbop der 1950er wurzelten – beispielsweise Wynton Marsalis oder Roy Hargrove (geb. 1969).
Einige der Fusionmusiker wandten sich bereits Mitte der 1970er Jahre einem scheinbar diametral entgegengesetzten Genre zu: der akustischen kammermusikalischen Improvisation. Die Pianisten Keith Jarrett (geb. 1945), Chick Corea und Herbie Hancock traten teils solistisch mit romantisch anmutenden langen Impovisationen an die Öffentlichkeit, teils aber auch mit im Bebop und in der Pianistik Bill Evans’ verwurzelten Aufnahmen in der Tradition des modernen Jazzklaviers. Auch der Gitarrist John McLaughlin begann seinen Jazzrock-Experimenten eine akustische-nachdenklichere und dabei extrem virtuose kammermusikalische Seite gegenüberzustellen. In akustischen Konzerten der genannten Musiker findet sich ein sehr viel größeres Publikum als in vergleichbaren Konzerten von Jazzern, die sich keinen populären Namen gemacht hatten – sicher ein Beleg für den Erfolg des Fusion-Konzepts, durch die Verbindung von Jazz und Rock nicht nur neue Klangwelten, sondern auch ein breiteres Publikum zu erobern.
Die 1980er Jahre
Der Jazz geriet in den 1970er Jahren in eine deutliche Krise. In den 1960ern war die Musik in der oben skizzierten Entwicklung einer immer stärker werdenden Komplexität an einen Zielpunkt gelangt, nach dem eine weitere Entwicklung unmöglich schien. Mit der Fusion und einer akustisch-romantischen Spielhaltung in den 1970er Jahren schien eine vollkommene Abkehr von jenen ästhetischen Idealen gegriffen zu haben, die zuvor die Avantgarde dieser Musik ausmachten. Daneben aber lebte auch die Avantgarde der 1960er Jahre weiter fort. Der Free Jazz wurde nicht mehr so sehr in Konzertsälen aufgeführt als vielmehr in kleinen Lokalen, oft in musikereigenen Örtlichkeiten, ja sogar in Musikerwohnungen, den sogenannten Lofts, die seit den 1960er Jahren in New York als Künstlerateliers oder -wohnungen genutzt wurden. Die Loft Scene der 1970er Jahre war das Gegenmodell zur Fusion oder zum erfolgreichen meditativ-romantischen Jazz derselben Zeit. Sie war zugleich der Nährboden jenes Eklektizismus, der Merkmal des Jazz in den 1980er Jahren werden sollte.
Zu den am kontroversesten diskutierten Musikern der 1980er und 1990er Jahre gehört der Trompeter Wynton Marsalis (geb. 1961). Marsalis stammt aus einer Musikerfamilie aus New Orleans, und die Musiktradition dieser Stadt spielt in seinem musikalischen Konzept eine wichtige Rolle. Nachdem er sich in der Band des Schlagzeugers Art Blakey einen Namen gemacht hatte, begann er eine eigene sehr erfolgreiche Karriere sowohl im Jazz- als auch im Klassik-Bereich. In seiner Musik bezieht er sich nicht nur als Trompeter, sondern auch als Komponist auf die Jazztradition. Seine Kompositionen spiegeln die New-Orleans-Tradition oder das kompositorische Konzept Duke Ellingtons wider, ohne ein Remake des Jazz vergangener Jahre zu sein. Sein ästhetisches Verständnis der Jazzgeschichte aber beleuchten auch seine Angriffe auf Free Jazz und Fusion, die er nicht der Jazzgeschichte zurechnet.
Die 90er Jahre bis heute
Die Jazzaktivitäten der 1990er Jahre wurden vor allem durch die Popularität Wynton Marsalis’ überstrahlt, dessen Position im Jazzmarkt so sicher wie umstritten war. Marsalis hatte nicht nur Erfolg mit CD-Veröffentlichungen und Konzerten im Jazz wie im klassischen Lager, er wurde von der Industrie gepuscht, avancierte zum künstlerischen Leiter des Lincoln Center Jazz Orchestra und des Konzertprogramms der hochsubventionierten Konzertreihe “Jazz @ Lincoln Center”, erhielt für seine Komposition “Blood on the Fields” 1997 als erster Jazzmusiker einen Pulitzer-Preis.
Neben ihm gab es aber auch andere Musiker, die aus der Tradition schöpften, ohne dabei jenen rigiden ästhetischen Anspruch zu haben, den Marsalis mit seiner Arbeit verband. Die “jungen Löwen”, wie Kritiker Musiker wie Roy Hargrove, David Murray, Donald Harrison, Terence Blanchard, Mulgrew Miller, Kenny Kirkland, Terri Lyne Carrington und andere bezeichneten, waren vor allem der Hardbop-Tradition verbunden, viele von ihnen hatten sogar die “Schule des Hardbop” durchlaufen, also in Art Blakeys Jazz Messengers gespielt. Ihre musikalische Sprache wurzelte in der Harmonik der 1950er Jahre, beeinflusst vom Spiel John Coltranes oder Miles Davis’, bereichert durch kurze Ausflüge in freiere Gefilde, funkige Einwürfe oder Anleihen aus der Fusion der 1970er Jahre. Es war eine Art neuer Mainstream, bluesgesättigt, auf Intensität bedacht, kompositorisch durchaus abwechslungsreich, selten experimentell.
Vor allem in Europa hat sich in den letzten Jahren eine Szene junger Musiker herausgebildet, deren Virtuosität und selbstbewusster Umgang mit der Jazzsprache hierzulande wie in den USA deutlich wahrgenommen wurde. Angefangen bei Louis Sclavis und Django Bates über Nils Landgren, Esbjörn Svensson oder Michel Pilc bis zu Christof Lauer oder Jens Thomas sind die europäischen “young lions” ihren eigenen musikalischen Erfahrungen verbunden, die genauso im amerikanischen Jazz wie in klassischer Musik und ihren jeweiligen nationalen Traditionen wurzeln. Mit dem Italian Instabile Orchestra gibt es in Italien seit einigen Jahren ein generationsübergreifendes Projekt improvisierter Musik im großen Ensemble, das seinesgleichen sucht und in dieser Form wohl nur in Europa möglich ist.
Der Jazz ist vielfältiger geworden und bunter und die Grenzen verwischen, nicht gerade zur Freude derer, die den Jazz als eine klar umreißbare kulturelle Aussage sehen wollen. Er swingt meist noch, wenn auch nicht immer, er ist im Blues verwurzelt, lässt sich aber auch aus anderen Traditionen beflügeln, er feiert sich selbst, weiß um seine Vorrangstellung als improvisierte Musik in der westlichen Welt und kann damit in einen selbstbewussten Dialog mit anderen kreativen Musikformen treten.
Quelle: http://www.jazzinstitut.de/history/Jazzhistory-4.htm



